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Land ist unser Leben

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Eine Reportage der Agrar Koordination
von Mireille Remesch

Im Oktober 2019 war die entwicklungspolitische Referentin der Agrar Koordination im brasilianischen Bundesstaat Paraná und hat in Zusammenarbeit mit Prof. Antônio Inácio Andrioli und Liria Andrioli von der Universität UFFS (Universidade Federal da Fronteira Sul) in Laranjeiras do Sul, Gespräche mit Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Indigenen und Landlosen geführt. Begleitet wurde sie von Jaine Amorin, die Fotos und Videos erstellt hat.
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In keinem Land der Welt werden so viele Pestizide eingesetzt wie in Brasilien. 35 Prozent der weltweiten Sojaproduktion wird hier geerntet. Und es soll noch mehr werden.

Dabei geht es auch ganz anders: Im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná hat sich eine starke soziale Bewegung gebildet, die konkrete Alternativen zum agrarindustriellen Modell aufzeigt und Familien mit gesunden Nahrungsmitteln versorgt, ohne Einsatz von Pestiziden und chemischen Düngemitteln.

Eine wichtige Errungenschaft, die unter der jetzigen Regierung von Jair Bolsonaro zerstört werden könnte. Noch funktioniert die agrarökologische Bewegung in Südbrasilien. Diese Reportage zeigt ihre Beweggründe und ihren Kampf um Land und für ein Leben ohne Pestizide.
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Josue Gomes

„Wir bäuerlichen Familien machen uns mit Agrarökologie unabhängig von teuren Betriebsmitteln wie Pestiziden und Dünger, und wir produzieren gesunde Nahrung für unsere Familien.“
Josue Gomes, Kleinbauer in Quedas do Iguaçu, Paraná.


Leichtfüßig bewegt Josue Gomes sich durch die gut zwei Meter hohen Kaffeepflanzen. In diesem Jahr ist er unzufrieden mit der Ernte.
Die Früchte sind nicht gleichmäßig gereift und weisen unterschiedliche Farbintensitäten auf. Einige sind schön rot, andere nur hellrot gefärbt. „Das wirkt sich auf die Qualität des Kaffees aus“, erzählt der junge Landwirt.
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Er nimmt die trockenen Blätter in die Hand und zeigt löchrige Stellen und weiße Flecken. Diesmal ist es eine Raupe, die ihm zu schaffen macht. Es ist zu trocken. Wäre es feuchter, würde ein Pilz den Schädling verdrängen.

In diesem Jahr jedoch nicht. Die großen Bäume auf seiner Kaffeepflanzung sind angegriffen und bieten zu wenig Schutz vor der Hitze. Auch heute brennt im Süden Brasiliens die Sonne vom Himmel und der Regen lässt auf sich warten.
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Der schmächtige Mann lebt mit seiner Frau, einer kleinen Tochter und seinen Eltern in Quedas do Iguaçu, nicht weit entfernt von den Iguazù-Wasserfällen in Südbrasilien.

20 Gemeinden zählt die Region von Cantuquiriguacu. Es ist die Gegend mit der zweitgrößten Armut in Paraná. 90 Prozent der Bauern sind Kleinbauern.
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Neben Kaffee baut er auf zehn Hektar Maniok, Mais und andere Gemüsesorten an. Ein Gift, das normalerweise gegen den Schädling beim Kaffeeanbau eingesetzt wird, benutzt der 35-Jährige nicht. Josue ist Teil einer agrarökologischen Bewegung hier im Bundesstaat Paraná.

Agrarökologie, das heißt, der landwirtschaftliche Anbau soll vielfältig und widerstandsfähig sein. Bäume spielen eine wichtige Rolle. Sie werden zusammen mit Feldfrüchten angebaut, dadurch verändert sich das Mikroklima und die Bodenfruchtbarkeit wird verbessert. Es brauche viel Wissen, Ausdauer und Lust am Ausprobieren, weiß Josue. Er beobachtet seine Pflanzen und die Fruchtbarkeit des Bodens ganz genau. Rot ist die Erde hier in Südbrasilien. Ein idealer Nährboden.

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Agrarökologie

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Josue trägt ein von der Sonne verblichenes rotes Cap, dazu Jeans und T-Shirt. Sein Gesicht ist schmal, die Augen sind dunkel. Oft arbeite er zehn Stunden oder länger, erzählt er, doch er sei zufrieden.

Seit 2015 arbeitet er nach dem agrarökologischen Konzept. Gelernt hat er anfangs bei der Bauernorganisation CEAGRO (Centro de Desenvolvimento Sustentável e Capacitacao em Agroecologia), und später an der Universität UFFS in Laranjeiras do Sul, siebzig Kilometer von seinem Zuhause entfernt. CEAGRO unterstützte bereits mehr als 3.000 Familien dabei ihren Anbau auf Agrarökologie umzustellen.
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Familie Goncalves Gandin

„Warum soll man Pflanzen mit Gift besprühen, wenn Jahre zuvor alles ohne Pestizide angebaut wurde?“, Helena und Roque Gandin, Kleinbauern in Porto Barreiro.

Helena und Roque Goncalves Gandin bauen auf ihren zehn Hektar Land eine Vielfalt an Nahrungspflanzen an. Zuckerrohr, Maniok, Reis, Süßkartoffeln, Bohnen, Mais und weitere Gemüse- und Obstsorten wachsen in ihrem Garten. Große Araukarien spenden Schatten. Von März bis Juni werden die Pinhão genannten Früchte dieser Bäume geerntet. Es gibt Schweine, Hühner, Rinder, Schafe und Fische. Verarbeitet wird all das von den Gandins selbst, auf ihrem Hof. Sie schlachten die Tiere, stellen Schmalz her und produzieren Rohrzucker.
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Ein "Mandala-Beet" in dessen Mitte Hühner gehalten werden. Diese runden Beete kommen aus der Permakultur, sind sehr vielfältig und ertragsreich.
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Roque und Helena Gandin
Roque und Helena Gandin
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Roque und Helena Gandin leben in Porto Barreiro, einem kleinen Ort in der Nähe von Laranjeiras do Sul. Auch sie sind Teil der agrarökologischen Bewegung in Paraná. Doch dies ist nicht einfach, denn im gesamten Bundesstaat wurden im Jahr 2019 auf 5,5 Millionen Hektar gentechnisch veränderte Soja (GV-Soja) angepflanzt.

Auch die Nachbarn der Gandins bauen GV-Soja und Tabak an. Lässt man seinen Blick über die Landschaft schweifen, sieht man die Zerstörung des Landes. Nur Soja, Mais oder Weizen soweit das Auge reicht. Erschreckend ist es zu erfahren, dass es nicht nur die „großen“ Landwirte und Agrarbetriebe sind, die auf dieses Geschäft setzen, sondern dass auch viele Kleinbauern diesem Modell folgen. "Sie sagen sie könnten es nicht anders machen", erklärt Helena. Sie möchten ihre Ernte auf einmal verkaufen und haben Angst, dass sie mit  Agrarökologie weniger Geld verdienen. Dabei müssen die Nachbarn alle ihre Lebensmittel kaufen.

Mit der GV-Soja kommen die Pestizide. In keinem Land der Welt werden mehr Pestizide versprüht als in Brasilien, etwa eine Million Tonnen jährlich. 47 Prozent der eingesetzten Pestizide landen auf den Sojafeldern.

Roque und Helena Gandin
Roque und Helena Gandin
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Großflächige Werbung für industriell hergestelltes Saatgut in Porto Barreiro:
"Ihre Plantage resistenter gegen Schädlinge und Insekten." Genossenschaft Coprossel – Technik im Dienste der Landwirte.
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Standard im Supermarkt: Öl aus gentechnisch verändertem Mais in Laranjeiras do Sul, gekennzeichnet mit dem gelben Dreieck und "T" für "transgenico".
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Felder mit gentechnisch verändertem Soja sind überall präsent und reichen dicht an die Häuser heran.
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Pestizide vergiften Land und Leute

Das brasilianische Gesundheitsministerium meldete über 15.000 Fälle von Pestizidvergiftungen in 2018, geht aber von einer tatsächlich viel höheren Zahl aus. Die meisten Pestizidvergiftungen gab es im Bundesstaat Paraná. Pestizide können zudem chronische Erkrankungen wie Krebs oder neurologische Schäden verursachen und Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit haben.
Im Jahr 2014 wurden in Brasilien 195.000 Tonnen Glyphosat verkauft. Das unter dem Markennamen „Roundup“ bekannte Pflanzenschutzmittel ist Nummer eins der eingesetzten Ackergifte in Brasilien, hergestellt durch die deutsche Bayer AG. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stufte Glyphosat im März 2015 als „wahrscheinlich krebserregend“ ein.
Von den in Brasilien meist verwendeten Wirkstoffen werden sieben vom internationalen Pesticide Action Network (PAN) als „hochgefährliche Pestizide“ eingestuft, darunter Glyphosat, Acephat und Atrazin. Das Herbizid Atrazin ist stark gewässergefährdend und Acephat ist hochtoxisch für Bienen. Beide Wirkstoffe sind in Deutschland verboten. Laut Larissa Mies Bombardi von der Universität Sao Paulo sind von den 150 im Sojaanbau in Brasilien erlaubten Pestiziden 35 in Europa verboten.

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Prof. Antônio Inácio Andrioli
Prof. Antônio Inácio Andrioli
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Einer, der seit vielen Jahren gegen diesen „Sojawahnsinn“, wie er es nennt, kämpft, ist Prof. Antônio Inácio Andrioli. Der Sozialwissenschaftler steht auf dem Campus der Universität UFFS (Universidade Federal da Fronteira Sul) in Laranjeiras do Sul, an der auch Josue, der Kaffeebauer, lernt.

Die hohen weißen Gebäude der Universität ragen aus den sie umgebenden grünen Feldern hervor. „An diesem Ort haben wir in den letzten zehn Jahren Geschichte geschrieben und bäuerliche Landwirtschaft vorangebracht“, erzählt er. Die landwirtschaftlichen Studiengänge an der UFFS basieren alle auf Agrarökologie. Das heißt auch, dass die Wissenschaft bäuerliches und lokales Wissen über die örtlichen Böden und Pflanzen einbezieht.

Doch nun werden diese Errungenschaften durch die neue Regierung unter dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro gefährdet. „Das ist schmerzhaft“, sagt Andrioli.
Der seit Januar 2019 amtierende Präsident unterstütze aktiv die Ausweitung der Sojaanbauflächen und der agroindustriellen Viehhaltung.

Allein in den ersten hundert Tagen von Bolsonaros Amtszeit wurden 290 neue Pestizide zugelassen.

Agrarökologie sei aus dem Widerstand der Bäuerinnen und Bauern gegen die moderne Landwirtschaft entstanden, erzählt der 45-Jährige in einwandfreiem Deutsch. Der gebürtige Brasilianer und Sohn eines Sojabauern promovierte mit einem Stipendium von Brot für die Welt zum Thema Biosoja versus Gensoja an der Universität Osnabrück.



Prof. Antônio Inácio Andrioli
Prof. Antônio Inácio Andrioli
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Was die Familien in Brasilien brauchen, seien wichtige Grundnahrungsmittel wie Maniok, Reis und Weizen. Laut dem Professor wurde ihr Anbau jedoch zugunsten der Soja immer weiter reduziert. „Wir brauchen nicht noch mehr Soja und Pestizide in Brasilien. Wir haben jetzt schon eine Fläche so groß wie Deutschland nur mit Soja“, sagt er.

Auch das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay) müsse verhindert werden. Dieses Abkommen gefährde die nachhaltige Landwirtschaft und wird nur weitere Monokulturen mit Soja und Zuckerrohr (Ethanol) zur Folge haben, so Andrioli.

Antônio lacht beim Sprechen. Seine Augen funkeln hinter der schwarzen Brille. Er kennt die Fakten und wird nicht müde die Umweltzerstörung durch den Sojaanbau und die Agrarindustrie, die an diesem Anbaumodell verdient, anzuprangern. Dank zahlreicher Kampagnen gegen die „agrotoxicos“, wie die Ackergifte hier genannt werden, stieg auch das Bewusstsein in der brasilianischen Bevölkerung.

Viel zu dieser Entwicklung beigetragen hat die Landlosenbewegung „Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“, kurz MST. Die roten Fahnen und T-Shirts der MST sind hier auf dem Land überall zu sehen.
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Widerstand

Kleinbauern kämpfen um Land und für ein Leben ohne Pestizide

© www.ceagro.org
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Der Kampf um Land prägt diese Region seit vielen Jahrzehnten. Tausende Familien haben ihr Land durch den Bau von Staudämmen verloren. Heute zerteilen riesige mit Wasser gefüllte Krater große Landflächen, wo vorher Familien gelebt haben. Der bekannteste Staudamm ist Itaipú an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay. Es ist das zweitgrößte Wasserkraftwerk der Welt.

Noch unter dem Präsidenten Lula Inácio da Silva, erstritt die MST eine Agrarreform, durch die tausende Familien Land erhielten oder Landtitel anerkannt wurden. Rund 45.000 Menschen gehören in Paraná der MST an.

Paraná ist das größte Gebiet der Agrarreform in Lateinamerika. 2019 leben mehr als 5.000 Familien in Siedlungen und 4.000 Familien leben auf besetztem Land in Camps.
© www.ceagro.org
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Die Landlosen wohnen entweder in so genannten Siedlungen (Assentamentos) oder auf besetztem Land in Camps (Acampamentos). Letztere leben in ständiger Ungewissheit und können jederzeit von der Polizei vertrieben werden. Einige Familien müssen bis zu zwanzig Jahre im Acampamento auf die Anerkennung des Besitzes ihres Landes warten. Seitdem Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt wurde, ist es mehr denn je ungewiss, ob weitere Familien eigenes Land erhalten. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hat Bolsonaro per Dekret jegliche Art von Landverteilung innerhalb der Agrarreform für unbestimmte Zeit eingestellt.
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„Nur Zucker und Mehl müssen wir im Supermarkt kaufen“, Darci und Marli Teresa da Silva, MST-Siedlung „Assentamento 8 de Junho“ in Laranjeiras do Sul.


Auch Darci und Marli Teresa da Silva gehören der Landlosenbewegung MST an. Auf ihren 12,5 Hektar kann es vielfältiger kaum sein. Neben Maniok, Reis und Bohnen wachsen Früchte, verschiedene Gemüse und Salate in ihrem Garten. Große Araukarien spenden den Pflanzen Schatten. Zwischendrin laufen einige Hühner. Schafe, schwarz-weiß gefleckte Schweine und zwei Rinder sind in ihren Gehegen.
Die grauen Haare von Darci glänzen in der Sonne. Er ist mit seinen 67 Jahren bereits in Rente und bekommt 400 brasilianische Real ausbezahlt, weniger als 100 Euro pro Monat. Die Arbeit muss trotzdem gemacht werden. Oft arbeiten sie zehn Stunden am Tag. An Tagen wie heute hilft sein Bruder. „Es braucht die Familie, um Agrarökologie machen zu können“, so der Kleinbauer.


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Seit 22 Jahren leben sie in der Siedlung „Assentamento 8 de Junho“ in Laranjeiras do Sul. „Vorher wurde hier auf einer riesigen Fläche nur konventionelle Soja angebaut“, so Darci. Heute wohnen hier 105 Familien, zehn von ihnen praktizieren Agrarökologie. Der ehemalige Besitzer erhielt eine Kompensation für sein Land.

Doch der Anbau in Monokultur laugt die Böden aus. Marli erzählt, es habe drei Jahre gedauert, bis das Land wieder fruchtbar war. Der Anfang in der Siedlung war schwer. Sie produzierten mit 15 Kühen konventionelle Milch. Doch dies funktionierte nicht. Obwohl die Familie der größte Milchproduzent in der Siedlung war, konnten sie mit den niedrigen Preisen der Molkereien nicht mithalten. Noch heute zahlen sie einen Kredit ab, der damals für die Produktion notwendig war.
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Darci beschreibt das Problem so: „Wir haben nur Milch produziert und nichts für die Ernährung der Familie.“ Daraufhin hat er eine Rechnung aufgemacht: Wie viel Geld müssen sie innerhalb von zehn Jahren für Einkäufe im Supermarkt ausgeben? Es zeigte sich, dass Milchproduktion für den Markt nicht der richtige Weg ist. Danach hat die Familie mit einem agrarökologischen Konzept neu angefangen.

An erster Stelle stehen für Darci und Marli die Gesundheit und die Versorgung der Familie mit gesunder Nahrung. „Agrarökologie, das ist Verbindung zum Leben, zur Natur und Umwelt“, so die Landlose. Sie haben sich für den agrarökologischen Weg entschieden, weil viele Familien nicht gesund waren. Das Kind ihrer Nachbarn zum Beispiel erkrankte schwer an der Leber und bekam mit zehn Jahren eine Lebertransplantation. Ein anderes Kind starb an den Folgen einer Vergiftung durch Pflanzenschutzmittel.
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Soziale Bewegung

Seit dem Jahr 2000 wurde die agrarökologische Bewegung in Paraná immer stärker. Unterstützung bekam sie ab 2003 durch die sozialdemokratische Regierung der Arbeiterpartei (PT) unter Präsident Lula Inácio da Silva. Lula startete unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Programme Fome Zero (Null Hunger) und Bolsa Familia (Familienhilfe). Bedürftige Brasilianer*innen erhielten monatliche Zuschüsse und Hilfspakete und bekamen damit einen dauerhaften Zugang zu Grundnahrungsmitteln. Einzige Bedingung für die Auszahlung der Gelder: Die Kinder mussten regelmäßig in die Schule und zum Arzt gehen.

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Die Landlosenbewegung MST kämpfte gemeinsam mit Organisationen wie CEAGRO (Centro de Desenvolvimento Sustentável e Capacitacao em Agroecologia), CAPA (Centro de Apoio e Promocao da Agroecologia) und ASSESOAR (Associação de Estudos Orientação e Assistência Rural) für die Etablierung von Programmen zur Unterstützung der Familienlandwirtschaft. Im Rahmen von PRONAF (Programa Nacional da Agricultura Familiar) und PRONERA (Programa Nacional de Educacao na Reforma Agrária) wurden zum Beispiel Kreditprogramme für Kleinbauern und -bäuerinnen und Schulungen in Agrarökologie auf den Weg gebracht.
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Wie wichtig diese Unterstützung und der Zugang zu Wissen ist, zeigt sich auch beim Kaffeeanbau von Josue Gomes in Quedas do Iguaçu. Der Kaffeebauer ist stolz auf das was er und seine Familie aufgebaut haben. In einem kleinen Holzschuppen riecht es nach frisch gemahlenem Kaffee. Es ist der Verkaufsraum. Nebenan werden die Bohnen über dem offenen Feuer geröstet. „Gomes Café“, ein agrarökologisches Produkt der Agrarreform, so steht es auf dem Etikett.  Sein Kaffee kostet gut das Doppelte des Konventionellen. Aber es gebe bereits genug Menschen in der Region, die diese Qualität haben wollen. 400 Kilogramm verkauft er bereits pro Jahr.

Doch die Förderung des Kaffeeanbaus innerhalb eines Programms der Agrarreform für Josue und seiner Familie, läuft im September 2020 aus. „Von der jetzigen Regierung werden wir kleinbäuerliche Familien keine Unterstützung bekommen“, so Josue, „das ist vorbei.“
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Dabei laufe es für viele Familien gerade so gut. In Paraná haben Kleinbauern und Landlose gemeinsam mit sozialen Organisationen für eine Unterstützung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gekämpft. So ist beispielsweise das Schulspeisungsprogramm „Programa Nacional de Alimentação Escolar“ (PNAE) entstanden. Es verpflichtet die Gemeinden, mindestens 30 Prozent der in den Schulen verwendeten Lebensmittel von Familienbetrieben zu kaufen.

„Das Schulspeisungsprogramm ist so wichtig, denn es unterstützt die agrarökologische Familienlandwirtschaft, verbessert das Einkommen für Bauern und bringt gesunde Lebensmittel in die Schulen und Universitäten.“
Prof. Antonio Andrioli
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Lokale Produktion

Denize bei der Aprikosen-Ernte
Denize bei der Aprikosen-Ernte
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„Wir liefern monatlich 1000 Kilogramm Salate an die Schulen in Laranjeiras do Sul,“ Denize Amorin, Landlose der MST-Siedlung „Assentamento 8 de Junho“.

Ivo und Denize Amorin leben mit 5 Personen auf 13 Hektar in der MST-Siedlung „Assentamento 8 de Junho“ in Laranjeiras do Sul.
Sie verkaufen ihre Produkte auf dem Markt in Laranjeiras do Sul und seit vergangenem Jahr haben sie ein kleines Restaurant in der Siedlung eröffnet. Auf der Speisekarte stehen frittierter Maniok, Hühnerfleisch und Fisch sowie frische Salate. Alle Produkte kommen aus ihrem Garten. Jetzt wollen sie in kleinem Maßstab Wurst, Käse, Joghurt und Milch selbst herstellen. Das Haus hierfür wird gerade von der Familie gebaut. Möglich ist dies Dank der Ausbildung der Tochter Sandra, die 2016 ihren Abschluss als Agraringenieurin an der nahegelegenen Universität UFFS machte. Zudem hilft ein Kredit von PRONAF über 100.000 Real (ca. 22.000 Euro), für den Bau des Restaurants und die Anschaffung notwendiger Geräte für die Lebensmittelproduktion.


Denize bei der Aprikosen-Ernte
Denize bei der Aprikosen-Ernte
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Lokale Märkte sind wichtig

Biogemüse auf dem Markt in Laranjeiras do Sul
Biogemüse auf dem Markt in Laranjeiras do Sul
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Bei ACEMPRE (Associacao Central dos Produtores Rurais Ecologicos) in Marechal Candido Rondon können Kleinbauern ihre Lebensmittel anbieten. 80 Familien aus 8 Städten der Umgebung liefern ihre Produkte in den Laden, wo sie verpackt und verkauft werden. Ein großer Teil wird auch an die Schulen in der Gemeinde geliefert.


Seit 2016 gibt es in Laranjeiras do Sul feste Marktstände an denen kleinbäuerliche Familien täglich ihre Produkte verkaufen können.



Biogemüse auf dem Markt in Laranjeiras do Sul
Biogemüse auf dem Markt in Laranjeiras do Sul
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Frauen organisieren sich: Kooperativen für gesunde Lebensmittel

Bäckerei der Kooperative Coperjunho
Bäckerei der Kooperative Coperjunho
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Vom Schulspeisungsprogramm profitiert auch die Bäckerei der Kooperative Coperjunho, die von Einwohner*innen der MST-Siedlung „Assentamento 8 de Junho“ betrieben wird. Dort werden an manchen Tagen 240 Kilogramm Kekse für die Schule in Laranjeiras do Sul gebacken. Zwanzig Frauen sind seit 2005 beschäftigt und backen mit einfachen Geräten Brote, Kekse und Gebäck. Für viele dieser Frauen ist dies eine Möglichkeit, endlich selbst Geld zu verdienen, sich zu organisieren und ihr Leben eigenständig zu gestalten. Oft sind sie es, die den Anstoß geben, auf gesündere Lebensmittel zu setzen.
Bäckerei der Kooperative Coperjunho
Bäckerei der Kooperative Coperjunho
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Wie geht es weiter?

Die UFFS: Eine Universität für Alle

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Professor Antônio Andrioli läuft über den Unicampus zur nächsten Vorlesung. 20 Studenten des Masterprogramms Agrarökologie warten auf ihn. „Unser Campus liegt mitten in einem Gebiet der Landlosen“, erzählt er, „das ist einmalig in Brasilien.“

Sein Leben habe sich seit dem Amtsantritt Bolsonaros drastisch verändert. Das Amt als Vizepräsident der UFFS hat er verloren. Dabei baute er die Universität über viele Jahre mit auf. In Paraná ist sie eine von sechs staatlich geförderten Universitäten mit Schwerpunkt Agrarökologie. Als „Bauernuni“ bezeichnet sie der Professor. Im Gegensatz zu den meisten Unis im Land kommen 90 Prozent der Studenten von öffentlichen Schulen und nicht von Privatschulen. Damit ist hier der Anteil von Kleinbauern, Indigenen und Landlosen hoch. Josue der Kaffeebauer ist einer von ihnen. „Menschen, die sonst nie eine Chance haben, werden an der Schaffung von Wissen beteiligt. Das ist wichtig für die Demokratie“, sagt Andrioli.

Doch die Demokratie ist in Gefahr und mit ihr auch das, was sich Josue, Darci und Marli und tausende Familien in der Region aufgebaut haben. Die Universität UFFS hat bereits einschneidende finanzielle Kürzungen erlebt und es ist fraglich, ob das Schulspeisegesetz fortgeführt wird. „Zum Teil warten Familien bereits seit fünf Monaten auf die Bezahlung für ihre Lieferungen an die Schulen“, weiß Andrioli.
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Eine große Bedrohung für die agrarökologische Bewegung stellt auch die mögliche Privatisierung der UFFS Universitäten dar. Ihre Finanzierung könnte von Agrarkonzernen abhängig werden, was der agrarökologischen Praxis ein Ende bereiten würde. Die Politik nimmt schon jetzt Einfluss auf das Curriculum in den Schulen und an den Universitäten. Die Forschungsgelder für Humanwissenschaften werden gekürzt und weniger kritische Studiengänge wie beispielsweise Ingenieurwissenschaften finanziell gut ausgestattet. Themen wie „Gender“ werden aus den Programmen genommen.

Repressionen erfährt auch die soziale Bewegung in Südbrasilien. Organisationen wie CAPA und CEAGRO bekommen keine finanzielle Unterstützung mehr. Die Landlosenbewegung MST und insbesondere Frauenbewegungen werden diskriminiert und bei Ausschreibungen von Projekten und Forschung übergangen. Die Lage für Kleinbäuerinnen und -bauern, Landlose und Indigene ist bedrohlich geworden. In der Nähe von Laranjeiras do Sul kam es im Oktober in einem Camp von Landlosen zur gewaltsamen Vertreibung durch die Militärpolizei.
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In Südbrasilien liegt es vor allem an der Stärke der sozialen Bewegung, dass zurzeit überhaupt noch Agrarökologie gefördert wird. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die gewachsenen regionalen Strukturen. So will der Bundesstaat Paraná beispielsweise bis 2030 eine hundertprozentige Versorgung mit Bioprodukten an den Schulen erreichen.

Unter der aktuellen Politik ist Agrarökologie alles andere als einfach. Doch die Bewegung in Paraná weiß, was sie kann und was sie bereits geschaffen hat. Die 700 Wissenschaftler*innen an den sechs Universitäten stellen zusammen mit den sozialen Bewegungen und den Bauern und Bäuerinnen eine große Kraft dar. Es ist ihnen trotz aller Hindernisse zuzutrauen, das agrarökologische Projekt am Leben zu erhalten. Denn Land, so sagen sie, sei ihr Leben.
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Herausgeber:
Agrar Koordination
Nernstweg 32
22765 Hamburg
www.agrarkoordination.de

Autorin:
Mireille Remesch
Kontakt:
Mireille Remesch
mireille.remesch@agrarkoordination.de
Telefon: 040 / 39 25 26

Spendenkonto:
Forum für Internationale Agrarpolitik (FIA e.V)
Konto: GLS Bank
IBAN DE29 4306 0967 2029 5635 00
BIC GENODEM1GLS

Bildrechte: Jaine Amorin, Mireille Remesch

Grafischer Support:
www.verenafaeth.de

März 2020
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Übersicht
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Kapitel 3 Agrarökologie

Josue

Kapitel 4 Familie Goncalves Gandin

Roque Goncalves

Kapitel 5 Pestizide vergiften Land und Leute

Kapitel 6 Widerstand

Kapitel 7 Soziale Bewegung

Landlose

Kapitel 8 Lokale Produktion

Kapitel 9 Wie geht es weiter?

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